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Die Entwicklung der
demokratischen Volksliedforschung

(von Werner Hinze)

1. Zur allgemeinen Wissenschaftsgeschichte

Als der Stammvater der romantischen „Volkslied“-Euphorie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland, JohannGottfried Herder, vom „verhohlenen Schmerz“ der „zerstreueten Menschheit“ sprach und „Klagen, die Niemand hört, das ermattende Ächzen des Verstoßenen, des Niemand im Schmuck sich erbarmt“ vernahm, da meinte er hauptsächlich Lieder von anderswo. Nur ein einziges deutsches Lied dieser Kategorie (Der Herren Räte treiben gross Gewalt, Nr. 31) war in seinen „Stimmen der Völker in Liedern“ aus dem Jahre 1807 enthalten. Die musikalische Ausdrucksform der Klage gibt es noch heute und nicht nur in anderen Ländern oder gar Kontinenten, sondern auch im eigenen Land. Die Äußerungen von unten sind aber nicht nur defensiv klagend, sondern auch anklagend, fordernd oder aufklärend.

Bereits in seiner Studienzeit in Königsberg führten Herders verklärte Vorstellungen von den „Naturvölkern“ zu einem auffallenden Interesse an Volksliedern. In Gesängen, die er in Livland hörte, fühlte er „den ersten Ton der Poesie und die erste Kraft der Musik in aller Einfalt, Stärke und Wahrheit“. Als dann 1765 Thomas Percy die „Reliques of Ancient English Poetry“ veröffentlichte und bei den Dichtern des Göttinger Hainbundes eine euphorische Stimmung auslöste, konnte auch die, teilweise recht derbe, Kritik Friedrich Nicolais über „das mit viel Sentimentalität verbundene Streben nach Volkstümlichkeit“ keine sachliche, geschweige denn eine wissenschaftliche, Auseinandersetzung mit dem Volkslied und seinem Umfeld herbeiführen.

Das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Intensität verbreitete nationale Interesse wurde durch die napoleonische Besatzung entscheidend verstärkt und bestimmte im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitgehend das Wesen der Romantik. Bereits in „Des Knaben Wunderhorn“, von
Achim von Arnim und Clemens von Brentano 1806-08herausgegeben, traten die deutschen Volkslieder umfassender hervor.

Aufgrund der Auffassung der deutschen romantischen Schule von dem „Volk“ als einheitlichem Ganzen und seiner unreflektierten, „unhistorischen Lehre vom Volksgeist als einer immanenten, unveränderlichen Eigenschaft“ sowie ihrer„Idealisierung des feudalen Mittelalters, des Katholizismus und Mystizismus“ wurde eine wissenschaftliche Erarbeitung der musikalischen Volkskultur erheblich erschwert.

Obwohl also der Beginn der Volksliedforschung unter keinem glücklichen Stern stand, begann die Forschung ab ca.1815 mehr und mehr wissenschaftliche Prämissen zu schaffen. Hierfür stehen hauptsächlich Jakob Grimm, Ludwig Uhland und Hoffmann von Fallersleben, die beiden letztgenannten zeigten auch in der Zeit des Vormärz demokratisches Bewusstsein und ließen diesbezügliche Impulse in die Volksliedforschung einfließen. Zum Freundeskreis um Hoffmann von Fallersleben gehörte Ludwig Erk, der in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Volkslieder zu sammeln begann und zu einem der größten Sammler werden sollte. Leider wurde die nach seinem Tode in drei Bänden herausgegebene Sammlung„Deutscher Liederhort“ durch Franz Magnus Böhme in vielen Fällen der politischen Artikulation des Volkes gegenstaatliche Willkür entledigt und somit ein für die Obrigkeit wohlgefälligeres Werk.

1856-58 gab Ludolf Parisius aus der Altmark (Bezirk Magdeburg) eine Sammlung von Volksliedern aus seiner Heimat heraus, die u.a. zahlreiche oppositionelle Soldatenlieder enthielt. Franz Wilhelm Freiherr von Ditfurth folgte 1872 mit seinem Band „Historische Volkslieder von 1815-1866“, in dem zahlreiche „scharf anklägerische oder satirische demokratische Volkslieder“ enthalten waren. „Finden wir bei Hoffmann von Fallersleben, Erk, Parisius und Dithfurth zahlreiche Lieder demokratischen Charakters, insbesondere auch unter den Soldatenliedern, so zeigen die nach 1871 in dem militärisch orientierten Hohenzollern-Deutschland erschienen Sammlungen und Darstellungen des deutschen Volksliedes ein völlig anderes Bild.“ (Wolfgang Steinitz Bd. I, S. XXXIV)

Obwohl das Interesse am Volkslied wuchs, sank die Würdigung demokratischen Liedgutes fast auf Null. Um die Jahrhundertwende begann die Jugendbewegung in Anlehnung an die Romantik und deren Verherrlichung mittelalterlicher Lebensweise das Volkslied wiederzuentdecken. Es entstanden Liederblätter und -bücher, deren Repertoire vom regional bezogenen Liedgut bis zu dem anderer (schwerpunktmäßig nordischer) Länder reichte. Die Wissenschaftsentwicklung verlief fast zeitgleich. Am 1. Mai 1914 gründete John Meier im Auftrag des damaligen Verbandesdeutscher Vereine für Volkskunde, das Deutsche Volksliedarchiv (DVA) in Freiburg. Das Ziel dieses Instituts sollte sein, die Sammelarbeit und deren Auswertung zu zentralisieren und damit zu erleichtern. Meier war es auch, der die Institutionalisierung der regionalen Sammelaktivitäten förderte, indem er zum Aufbau landschaftlich gebundener Volksliedarchive aufrief.


2. Ein Beispiel:  Die musikalische Arbeiterkultur

1987 bis 1989 lief ein Projekt zur Erforschung der musikalischen Arbeiterkultur unter der Leitung von Vladimir Karbusicky und Werner Hinze am Musikwissenschaftlichen Institut Hamburg. Ziel war die Sammlung, Auswertung und Archivierung des diesbezüglichen Materials mit regionalem Schwerpunkt. Es galt vor allem auch ein reales Bild zu erarbeiten, dass zwischen westdeutscher Ignoranz und ostdeutscher Glorifizierung liegen musste.


2.1. Das Arbeiterlied in der Forschung - erste Ansätze (Impulse)

Die Arbeiterbewegung, die an der allgemeinen Entwicklung bei der Beschäftigung mit dem Volkslied (so z.B. der Arbeitersängerbund), im Auf und Ab ihres Bestehens, regen Anteil nahm, pflegte zwar das Kampflied und dessen revolutionäre Tradition (die von den Erfahrungen der Französischen über die 48er Revolution ging), konnte aber, trotz der Versuche Einzelner - wie Max Kegel oder Johann Most -, u.a. aufgrund der Sozialistengesetze die Aufarbeitung demokratischen Liedgutes nicht leisten.

Nach dem Ersten Weltkrieg begannen zaghafte, überwiegend ungenügende Versuche, eine andere Seite des Volksliedes aufzuzeigen. 1924 erschien im Malik-Verlag von dem 1919 in München ermordeten Sozialisten Eugen Levine die „Stimmen der Völker zum Krieg“; 1927 dann in Heide (Holstein) das kleine Büchlein von Robert Strohmeyer „das andere Volkslied“. Strohmeyers Buch war leider nicht nur in der Art der Beweisführung wissenschaftlich ungenügend, durch willkürliche Auslassungen versuchte er auch den Charakter einiger Lieder in seinem Sinn zu verändern. 1929 widmeten die Herausgeber der Zeitschrift „Kulturwille. Monatsblätter für Kultur der Arbeiterschaft“, Leipzig, eine Sondernummer über„Das Revolutionslied“ (Nr. 3), mit einem Aufsatz über Revolutionäre Volkslieder“.


2.2. Die Wissenschaftsentwicklung

Der erste Versuch einer Geschichte und einer Textanalyse geht auf Margarete Nespital im Jahre 1932 zurück (Das deutsche Proletariat in seinem Lied, erschienen in Rostock). Es gab Bearbeitungen aus literarischer Sicht, z.B. Charlotte Fraenkels Studien zur sozialen Arbeiterlyrik in Frankreich (Breslau 1935), Gerhard Heilfurths „Das erzgebirgische Bergmannslied“ (Schwarzenberg 1936), „Lieder deutscher Waldarbeiter“ von Malte Hass (Kassel 1938). Folkloristisches Interesse ist kennzeichnend für John Greenways „American Folksongs of Protest“ (Philadelphia 1953, 2. Aufl. New York1970) die wertvolle Balladensammlung von A.L. Lloyd „Come All ye Bold Miners, Ballads and songs of the Coalfields“(London 1952, 2. Aufl. 1978) und die in Polen gesammelten Balladen schlesischer Bergleute (S. Wallis, 1954, A. Dygycz,1956)

Von 1954 bis zur „Wende“ 1989 war das Arbeiterliedarchiv der DDR führend in der Aufarbeitung des Materials. In der Praxis wurden aber z.B. sogenannte „Rinnsteinlieder“ und Lieder „der Bettler, Vagabunden, Dirnen usw.“ mit der Begründung, dass sie „zwar auch Opfer der Klassengesellschaft sind, aber nicht zum werktätigen Volk gehören“ von jeder Bearbeitung ausgeschlossen (W. Steinitz Bd. 1, S. XXIII). Mit dem menschenfeindlichen Begriff „Lumpenproletariat“ wurden zusätzlich eine nicht näher definierte Gruppe und deren kulturelle Artikulationen ausgegrenzt und somit einer wissenschaftlichen Analyse entzogen. Die soziopolitischen Auffassungen wurden in ihrer Einseitigkeit und mit ihren Fehlern auf die Liedforschung transponiert. Diese krampfhaften Versuche, ganz ähnlich denen der bürgerlichen Volksliedforschung, das „echte“, „wahre“ (mit welchem Attribut auch immer belegte) Volkslied zu suchen, zu finden und zu konservieren, verlagerten den Dogmatismus auf eine andere ideologische Ebene um ihn dort fortzusetzten. Das führte auf der einen Seite zu einer Idealisierung der Schöpfungskraft des Volkes (analog zu der des Arbeiters) auf der anderen zur Ignoranz oder gar Bekämpfung politischer wie philosophischer Gedanken. Verarbeitungen oder Impulse z.B. der anarchistischen Bewegungen, bestimmter Fraueninteressen oder der „Liga der Vagabunden“ werden im wesentlichen nichtbeachtet. Diese Art der Herangehensweise will MVU aufheben.


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