„Arme Reisende"

Wenn man vom Einkommen der 'armen Reisenden' spricht, so kann man selbstverständlich nur das meinen, was sie sich zusammenschnorren und was sie hier und dort an staatlicher und Gemeindeunterstützung bekommen, sowie was sie von der Gewerkschaft oder von der Innung beziehen. Am besten haben es die Gewerkschaftsmitglieder; die bekommen gewöhnlich pro Tag 70 Pf. bis 1,25 Mk. Reisegelder. Die Unterstützungen bestehen meist in sogenannten Verpflegungen, d.h. der Anfragende erhält nach gründlicher Legitemierung gewöhnlich eine Abendsuppe mit Brot, ein Nachtlager und darauf Morgenkaffee. Auch einzelne Gemeinden gewähren Verpflegung, wofür aber fast immer eine drei- bis fünfstündige Arbeit verlangt wird. Manchmal besteht diese im Graszupfen auf dem Marktplatz, ein andermal im Chausseesteinekarren oder im winterlichen Schneeschippen u. dgl. mehr. (...) In Lübeck bekam ich vierzig Pfennige als Stadtgeschenk. Es wird wohl keiner beweisen können, daß man damit einen Tag über seinen vollkommenen Lebensunterhalt zu bestreiten vermag. Man ist also auf das Fechten  betteln  angewiesen (...) Die Berliner Goldschmiede-Innung gewährt eine einmalige Unterstützung von 1,50 Mark, die Duisburger Schlächter-Innung 50 Pfennige, andere Innungen in Kleinstädten gar nur 10-15 Pfennige. In Kleinstädten bekommen überhaupt nur Schuster, Bäcker, Tischler, Schlächter Innungsgeschenke. Viele Berufe können sich dort nur bettelnd auf der Wanderschaft weiterbringen. (Ostwald 1906, S. 18ff.)

Peter Wiepert berichtet von den Monarchen, die zur Erntearbeit nach Fehmarn gekommen waren, dass die, wenn sie „ihr Erntegeld leichtfertig verprasst hatten, auf dem Rathaus in Burg, beim ‘Sundfritzen’, dem Leiter des Armenwesens, das ‚Sundgeld' (23 Pfennige für die Überfahrt über den Fehmarnsund)“, bekamen. Das standihnen nach einer früheren Abmachung der fehmarnschen Repräsentanten zustand. (Wiepert, 1982, S. 39/40)


Armen- und Arbeitshaus
Das Armen- und Arbeitshaus war eine Einrichtung, die seit der ständischen Gesellschaft des Mittelalters von Region zu Region in unterschiedlichen Variationen existierte. Je nach Größe der Kommune reichte von einer kleinen Wohneinheit für die ortsansässigen Armen bis zu einer Verbindung mit Werk, Korrektions (Nachbesserungs-), Zuchthaus oder Spital.

Die Bremische Armenordnung von 1658 beispielsweise zeigt den frühen städtischen Umgang mit Armen. Danach wurde in „Hausarme" unterschieden, die ein Recht auf die Unterstützung der Gemeinde haben, und in „fremde Arme", die nach dem Erhalt eines Zehrpfennigs in der Regel die Stadt wieder verlassen müssen.

„Sollten auch nächst publicirter dieser Ordnung einige Arme sich gelüsten lassen, dem Bettel auf den Gassen und an den Thüren nachzuhängen, ... so soll ihnen die Pfrunde oder Almosen entweder auf eine Zeitlang entzogen, oder nachdem sie betreten wohl gar mit Anderen, die der Aufhebung nicht würdig abgeschaffet oder ins Werkhaus gebracht werden." (zitiert nach Franke, 1979)

Das Werkhaus war also in jener Zeit für „undisziplinierte" Hausarme eingerichtet, während fremde Bettler aus der Stadt verwiesen werden sollten und nur im Falle des Widerstandes konnten die Bettelvögte sie vorübergehend in ein Gefängnis einweisen. Das sich hierin widerspiegelnde "Heimatrecht" (Arbeitshaus) wurde erst ab 1871 in ganz Deutschland abgeschafft.

Hundert Jahre später, um 1766 herum, sah der Umgang mit Bettlern in Dessau noch ähnlich aus. In der Beilage der „Anhaltischen Rundschau“ vom 25. Oktober 1919 heißt es dazu u.a.

„Das Bettelwesen war in Dessau damals ordentlich organisiert und zerfiel in zwei Abteilungen: Stadtbettler und fremde Bettler, wie Vagabunden, Handwerksburschen und Zigeuner. Den Stadtbettlern wurde es erlaubt, an gewissen Tagen in der Woche Häuser bestimmter Familien zu besuchen, um ihren Bettelpfennig in Empfang zu nehmen. Die ‘Vagabonden’ durften nur aus der ‘Vagabondenkasse’ der Stadt und aus der Zunftkasse Almosen erbitten und entgegennehmen. Die Stadtbettler zogen damals unter Aufsicht des Bettelvogts Kusch, dem Schrecken der Handwerksburschen, durch die Stadt und nahmen meist aus dem sich öffnenden Fenster die Gabe, Geld oder Brot, in Empfang. Von diesen Gaben erhielt ebenfalls der als sehr gutmütig beschriebene Bettelvogt. Es ging dabei sehr friedlich und gemütlich zu. Mehr Not und Strenge erforderten die fremden Bettler, mit welchen sich oft zweifelhafte Elemente des Bürgerstandes verbanden und gegen den alten Kusch vorgingen. Oft führte er sie in das Zuchthaus, wo sie verprügelt und bei Wasser und Brot über ihre Sünden nachdenken mussten. Den andern Tag beförderte man sie aus Dessau hinaus, doch blieben Racheakte selten aus. Sie brachen die Bäume auf den durch den Fürsten erst mit Mühe angelegten Landstraßen um, demolierten Denkmäler etc.“

Die Definition von Kriminalität war dem Wandlungsprozess jener Zeit unterworfen. Während die ständische Gesellschaft des 18. Jhs. hauptsächlich damit beschäftigt war, die außerhalb der Ständepyramide stehenden Arbeitslosen, Bettler und Vaganten allein aufgrund deren Status zu verwalten oder zu sanktionieren, war die bürgerliche Gesellschaft seit der Mitte des 19. Jhs. mit der Häufung von Eigentumsdelikten befasst. Der Bau von Zuchthäusern hatte im 18. Jh. vielfach die Bekämpfung der Bettelei als Ursache, hatte allerdings den Nachteil, dass es der jeweiligen Obrigkeit Geld kostete und verhältnismäßig aufwendig war. Strafen an Leib und Leben blieben daher noch längere Zeit in Gebrauch.

Eine deutliche Aufgabentrennung der verschiedenen Institutionen wie Arbeits-, Armen-, Irren-, Werk- oder Zuchthäuser begann im Zuge der Verbürgerlichung der Gesellschaft ab 1800. Zu unterscheiden sind allerdings die Häuser nach ihrer Lage, da in größeren Städten natürlich andere Bedingungen herrschten als auf dem Lande.


Asyl - Der Zufluchtsort für Verfolgte bezeichnete seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. auch öffentliche Einrichtungen zur vorübergehenden Unterkunft Obdachloser.



Literatur:
Franke, Walter (Hg.): Dieser Stat Armenhaus zum Bethen und Arbeyten. Geschichte des Armenhauses zu Bremen 1698-1866 mit weiteren Beiträgen zur bremischen Sozialgeschichte, Bremen 1979
Bergmann, Alfred: Das Detmolder Zuchthaus als Stätte von Christian Dietrich Grabbes Kindheit und Jugend. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Strafvollzuges in Lippe an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert, Detmold 1968
Bergmann, Klaus (Hg): Schwarze Reportagen. Aus dem Leben der untersten Schichten vor 1914: Huren, Vagabunden, Lumpen, Reinbek bei Hamburg 1984
Militzer-Schwenger, Lisgret: Armenerziehung durch Arbeit. Eine Untersuchung am Beispiel des württembergischen Schwarzwaldkreises 1806-1914. Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 48, Tübingen, 1979





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