Weihnacht in der Herberge 
 
                        
                        
                            (1895) 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Ungeduldig und verzweifelt 
                            waren alle die Jüngeren, die ich vor 
                            Weihnachten traf. Sie machten die 
                            übereifrigsten Anstrengungen, noch vor dem 
                            Fest Arbeit zu bekommen. Das war hier, im 
                            rheinisch-westfälischen Industriebezirk, wohl 
                            leicht möglich - wenn es nicht gerade im 
                            Hochwinter gewesen wäre, wo zwischen den 
                            Festen so viel Betriebe still lagen. Die 
                            älteren waren ruhiger. […]  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Die Spannung steigerte sich, 
                            je mehr wir uns dem Feste näherten. Die 
                            meisten wurden ruhiger, gesetzter und freundlicher 
                            im Wesen. Andere wurden immer bissiger.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Und endlich Heiligabend! 
                        
                        
                            Die Penne war 
                            überfüllt. In Hast und Aufregung sprachen 
                            alle durcheinander. Jeder wollte dem andern 
                            erzählen, wie gut es ihm heute beim Fechten 
                            ergangen. Und der andere hörte gar nicht zu - 
                            denn er mußte ja auch berichten, wie es ihm 
                            ergangen. „Nu hört mal auf mit dem 
                            Rauchen!“ sagte der Herbergsvater, „und 
                            betragt euch anständig! Heute am 
                            Christabend!“ 
 
                        
                        
                            Die meisten gehorchten. Nur 
                            ein paar, die verzweifelt und angetrunken vor sich 
                            hinstierten, mußten mit Gewalt gezwungen 
                            werden, das Rauchen einzustellen. Dann sangen wir:  
                            
                        
                        
                            „Stille Nacht! heilige 
                            Nacht.“ 
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Der Herbergsvater hielt eine 
                            halbstündige Andacht, in der er uns ermahnte 
                            und immer wieder an die Eltern und Geschwister 
                            erinnerte. Die brennden Kerzen des Weihnachtsbaumes 
                            spiegelten sich in manch nassem Auge. Als es dann 
                            hieß, wir würden morgen früh sehen, 
                            was das Christkind uns mitgebracht, und als wir 
                            oben im Schlafsaal lagen, ging die Rührung in 
                            Niedergeschlagenheit und erschütternder 
                            Verzweiflung unter […]  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Morgens war die Stimmung 
                            wieder freudiger. Es gab zwei Tassen Kaffee, eine 
                            große Kuchenstolle und ein Erbauungsbuch: 
                            „Wanderstab für Pilgersleute.“ 
                            Einige, die bei allem ganz gelassen geblieben 
                            waren, versuchten sofort, das Buch zu verhandeln. 
                            Gleich darauf kam eine Kiste mit 
                            Kleidungsstücken. Von einem unbekannten 
                            Geber“, meinte der Herbergswirt.  
                        
                        
                            […]  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            „Immer ruhig! Stellt 
                            euch mal zu beiden Seiten auf! So - nu wolln wir 
                            sehen, wer ein Kleidungsstück verdient!“ 
                            Sein Gehilfe, ein junger Diakon, wies auf ein paar 
                            gänzlich Abgerissene. „Nein - Sie sind 
                            auch zu unerfahren - zu unerfahren!“ tadelte 
                            der Herbergsvater. „Das sind die, die es 
                            nicht verstehn, mit ihren Sachen umzugehn, 
                            hauszuhalten. Die verdienen es nicht. Sie 
                            müssen immer nach den Stiefeln sehn. Ich habe 
                            das gleich herausgehabt - wer ordentlich mit seinen 
                            Stiefeln ist, wer sie sauber hält - der ist 
                            ein tüchtiger Kerl!“ 
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Die gänzlich Abgerissenen 
                            sahen mit grauen Gesichtern und frierend zu, wie 
                            sich die anderen die guterhaltenen Röcke und 
                            Hosen überzogen. Die Penne leerte sich heute 
                            später als sonst. Der Herbergsvater schickte 
                            mehrere nach offenen Stellen. […] Als die 
                            andern zurückkamen, beschwerten sie sich 
                            untereinander, daß der Herbergsvater sich 
                            verpflichtet fühle, den Kunden zu den 
                            allerschlechtesten Stellen zuzureden. Sie 
                            erzählten, zu welch niedrigen Preisen ihnen 
                            Arbeit angeboten war. […] Unzufriedene 
                            Äußerungen tauchten schnell unter in dem 
                            feierlichen Ton, der alle beherrschte. Und als nach 
                            dem Mittag die meisten mit gefüllten Taschen 
                            heimkehrten in die Herberge, war wieder alles 
                            lustig und munter. […]  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Bis jetzt hatten sich alle 
                            ruhig und gesittet benommen. Die meisten schienen 
                            ihren Stolz darin zu setzen, sich so festlich und 
                            würdig wie möglich zu bewegen. […] 
                            Bald entfernten sich immer mehr Gruppen. Jene, die 
                            wiederkamen, hauchten Schnapsgeruch aus. Die zuerst 
                            mit aufgebrochen waren, fingen bald an zu singen. 
                            Ab und zu verschwand immer wieder einer: 
                            „Hier ist es ja zum Brechen 
                            langweilig.“ - Und sie erzählten 
                            einander, wie es wohl früher zur Weihnacht 
                            gewesen, wie es wohl zu Hause sei - und bald 
                            standen sie wieder auf, um in der Schnapskneipe 
                            nebenan sich vollzutrinken: „Det jehört 
                            zu`n richtijet Fest! - Det machen die feinen Leute 
                            ooch so! Det jeh“rt sich so!“ Einige 
                            heulten und wimmerten in ihrer Trunkenheit - 
                            daß sie so verlassen, immer unterwegs seien. 
                            Bei den andern brach die ganze Wut durch, die sie 
                            sonst immer demütig verstecken mußten - 
                            einer hatte berichtet, wie ihn ein Herr 
                            „gemeines Individuum! Zuchthausbande!“ 
                            gescholten. In dem dunklen Zimmer ganz unter sich 
                            ergingen sie sich in den wildesten Ausdrücken. 
                            Es kränkte sie am stärksten, daß 
                            man sie, die unfreiwillig Arbeitslosen, für 
                            Verbrecher hielt. Dann sprachen sie noch über 
                            jene Handwerksburschen, die sich in der 
                            gößten Not zum Gegenstand der Liebe zum 
                            eigenen Geschlecht prostituierten, gaben sich auch 
                            Straßen am Berliner Tiergarten und im Westen 
                            an, wo diese Menschen ihren Erwerb suchen - alles 
                            mit wollüstiger Verachtung. Ab und zu lallte 
                            einer: „Gib mir mal den Sorgenbrecher!“ 
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Hans Ostwald, Vagabunden. Ein 
                            autobiografischer Roman, Leipzig 1928 (Hess und 
                            Becker; 7. neubearbeitete Aufl. [1.Aufl. 1900, 
                            Verlag Bruno und Paul Cassierer), S. 209ff.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            „Kenn“ oder 
                            „Kenn Mathilde“.  
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Erkennungsruf der Kunden, z.B. 
                            der Eintretende tritt an den Tisch in der Penne, 
                            klopft mit den Knöcheln der geballten Hand 
                            auf, um sich zu überzeugen, daß 
                            Seinesgleichen  dasitzen. Die klopfen ebenso 
                            auf die Tischplatte, alle halten aus geballter 
                            Faust den Daumen hoch und rufen „Kenn Kunde, 
                            kenn! Kenn Mathilde“. Ein Beispiel gibt Emil 
                            Nicolai, ein Kunde aus dem Ende des 19. Jhs. in 
                            einem seiner Gedichte:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Nur für Fremde. 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Die Sonne zaghaft glühend 
                            singt im West, Wie eine Mutter, die ihr Kind 
                            verläßt. 
                        
                        
                            Vom Wandern müd, die 
                            Füße schmerzen wund, tret’ in die 
                            Schenke ich zur selben Stund. 
                        
                        
                            Der Feuerstrahl durch 
                            schmutz’ge Scheiben dringt - und Qualm und 
                            Staub zur Säule tanzend zwingt. 
                        
                        
                            Im Raume rechts ein Tisch die 
                            Ecke füllt,und ob dem Tische hängt ein 
                            großes Schild. 
                        
                        
                            An der von Ruß und Dunst 
                            geschwärzten Wand, worauf geschrieben: 
                            „Nur für Fremde“ stand. 
                        
                        
                            Das „Nur für 
                            Fremde“ als wie Drohung klingt dem, der so 
                            gern an Menschenherzen sinkt. 
                        
                        
                            Und doch besagt es alles, 
                            schlicht und recht: wer wandert, ist dem anderen 
                            viel zu schlecht. 
                        
                        
                            „Bleib eingesellen doch, 
                            du blöder Tor! Die Made liebt die Made nur im 
                            Rohr!“
 
                        
                        
                            Dies alles fährt mir 
                            plötzlich durch den Sinn, und zu dem Tische 
                            tret’ ich schweigend hin 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Im Dunkel hocken drei Gesellen 
                            dort, als wie Gespenster an den Geisterort. 
                        
                        
                            Und meine Faust klopft auf die 
                            Platte: Kenn daß gegenklopfend sich 
                            Verwandtes nenn. 
                        
                        
                            Der Ruf erfolgt, ich bin kein 
                            Fremder mehr das Herz wird leicht - das mir so 
                            sorgenschwer. 
                        
                        
                            Und machtlos jetzt, das 
                            „Nur für Fremde“ narrt - bis 
                            anderen Ortes mir dasselbe starrt. 
                        
                        
                            So geht es fort in stetem 
                            Wechselspiel und „Nur für Fremde“ 
                            ist dasselbe Ziel. 
                        
                        
                            Bis das „Schachmatt! so 
                            Mancher niedersinkt und ihm die Erde dann verdauend 
                            schlingt. 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            > Emil Nicolai  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
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