Herbergen zur Heimat 
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Die „Herbergen zur 
                            Heimat“ wurden vom Kunden 
                            „Heiligkeit“ und deren Verwalter 
                            „Heiliger Vater“ genannt. Der Name gibt 
                            einen Hinweis auf den „gewaltigen 
                            Einfluß“ des Herbergswirts. „Ein 
                            Wink von ihm genügt, um einen an der Freiheit 
                            hängenden Landstreicher hinter Schloß 
                            und Riegel zu bringen.“ (Ostwald) Eine 
                            „wilde Heimat“ war eine Unterkunft in 
                            der nicht gebetet wurde.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Mieß sind in erster 
                            Linie sämmtliche (christlichen) 
                            „Herbergen zur Heimath,“ sowie die 
                            übrigen, wo auf strenge Hausordnung gehalten 
                            wird. Das Kartenspielen und Schreien ist verboten; 
                            desgleichen das Singen von Gassenhauern und 
                            unanständigen Liedern (eigentlich das Singen 
                            im Allgemeinen, doch wenden viele 
                            „Väter“ Vor- und Nachmittags, wenn 
                            der geschäftliche Verkehr nicht dadurch 
                            gestört wird, gegen anständige Lieder 
                            nicht ein.) Schnaps wird nicht verabreicht, auch 
                            aus der eigenen Flasche darf nicht getrunken 
                            werden. 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Trotzdem - eigentlich gerade 
                            deswegen und wegen den größtentheils 
                            reinlichen Betten und der reellen Handhabung des 
                            geschäftlichen Verkehres - sind die 
                            mießen Pennen jedem ordentlichen reisenden 
                            Handwerker nur auf’s Beste zu empfehlen. Das 
                            Verzeichnissämmtlicher unter Kontrole eines 
                            Vorstandes stehenden „Herbergen zur 
                            Heimath“ ist beim Vater gratis zu haben. Die 
                            Hausordnung ist zur Kenntnißnahme im 
                            Fremdenzimmer angeschlagen. (Rentsch ca. 1890) 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Das war eine von den 
                            Erfahrungen, die ich in den evangelischen Herbergen 
                            zur Heimat machte. Diese Herbergen werden meist von 
                            Kreisen gegründet, die der inneren Mission 
                            angehören. Sie stellen mit ihrer Sauberkeit 
                            und Ordnung eine große Entwickelung im 
                            Herbergswesen da. Als die erste Herberge zur Heimat 
                            vor genau fünfzig Jahren gegründet wurde, 
                            gab es fast nur die Schnapsherbergen, wie sie auch 
                            heute noch neben den 465 Herbergen zur Heimat in 
                            Großstädten, Industriebezirken und in 
                            vielen rein ländlichen Gegenden vorhanden 
                            sind. In ihnen zahlt man wenig Pfennige für 
                            ein Nachtlager auf Stroh, auf bloßer Erde 
                            oder auf Tisch und Bänken. 
                            „Bankarbeit“ nennen es die Kunden. Da 
                            hängen nasse Kleider und Strümpfe am 
                            heißen Ofen, auf der Erde liegen Mann, Weib 
                            und Kind einträchtig beisammen - am 
                            nächsten Morgen entwickeln sich sonderbare 
                            Idyllen, wenn die Weiber ihre letzten Hüllen 
                            herabziehen, um nach Ungeziefer zu suchen.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            In solche Herbergen, die im 
                            östlichen Deutschland oft von jüdischen 
                            Gastwirten gehalten werden, schicken häufig 
                            polizeiliche Organe die Wandernden, die sich als 
                            mittellos bei ihnen melden. Da wissen die 
                            behördlichen Organe gewiß nicht, was sie 
                            tun. Auch die Gewerkschaften sind oft 
                            genötigt, ihre Mitglieder in solche Pennen zu 
                            schicken. Zwar kontrollieren sie die Schlaflokale - 
                            aber nicht immer haben sie einen entscheidenden 
                            Einfluß. (...)  
                        
                        
                            Hans Ostwald, Landstreicher. 
                            Berlin 1906, S.48f.) 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Auf eine Unterscheidung in den 
                            Herbergen macht Ostwald aufmerksam: „Auf der 
                            rechten Seite stand: Gastzimmer - links las ich: 
                            Fremdenzimmer. Ich wollte erst ins Gastzimmer 
                            gehen. Willem hielt mich aber zurück. Das 
                            Gastzimmer sei nicht für uns wir seien doch 
                            auch Gäste, meinte ich. Das schien er nicht 
                            recht zu verstehen und ging mir voraus ins 
                            Fremdenzimmer.“ Eine derartige räumlich 
                            Unterscheidung existiert noch heute in vielen 
                            Landgasthöfen.  
                        
                        
                            „In keiner deutschen 
                            christlichen Herberge werden Weiber 
                            aufgenommen“, läßt Ostwald einen 
                            Herbergsvater sagen und zeigt damit ein Problem 
                            vieler Frauen auf, die auf wenige spezielle 
                            Þ„Schicksenpennen“ angewiesen 
                            waren.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Andacht
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            auf den Herbergen zur Heimath 
                            wird Morgens und Abends je eine Andacht abgehalten. 
                            Gewöhnlich liest der 
                            „Herbergsvater“ nur etlich Stellen aus 
                            der Bibel und spricht ein Gebet dazu. Auf manchen 
                            „Pennen“ wird auch allgemein dazu 
                            gesungen und in manchen Städten hält 
                            aller acht Tage der Pfarrer eine ca. ½ 
                            Stunde dauernde Predigt. 
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Ein Beispiel einer von Rentzsch angesprochenen 
                            Andacht gab Hans Ostwald in seinem 
                            autobiographischen Roman „Vagabunden“ 
                            wieder:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Der Herbergsvater hatte uns 
                            bisher von einem kleinen Nebenzimmer beobachtet und 
                            ab und zu wohl auch einem Handwerksburschen eine 
                            Flasche Dünnbier verkauft, das auf einem 
                            Schanktisch an der Tür stand. Er war ein 
                            hagerer Mann mit dunklem Vollbart, der in seinem 
                            Wesen einem kleinen Handwerksmeister 
                            „ähnelte. Seine Frau, eine starke 
                            rundliche Person, war bis jetzt einigemal zu sehen 
                            gewesen. Plötzlich verschwand sie - der 
                            Hausknecht legte uns Gesangbücher hin, und der 
                            Boos trat näher - bis zu einem Tisch in 
                            unserer Mitte.  
                        
                        
                            Die Handwerksburschen setzten 
                            sich und zogen die Hüte von den Köpfen. 
                            Als ein Nachbar des Kaufmanns, der im Halbschlaf 
                            nicht gesehen hatte, daß Andacht gehalten 
                            werden sollte, seine Mütze aufbehielt, 
                            riß sie ihm der Kaufmann herunter. Der 
                            Schlafende fuhr auf - schwieg aber still, als der 
                            Boos ihn finster anblickte. Der Kaufmann bekam 
                            einen anerkennenden Blick vom Boos. Freudig 
                            erglänzte er. Wir sangen gemeinsam ein 
                            geistliches Lied:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Die Lieb ist freundlich, 
                            gütiglich, 
                        
                        
                            Sie eifert nicht, noch 
                            blühet sich, 
                        
                        
                            Glaubt, hofft, erträgt 
                            all’s mit Geduld, 
                        
                        
                            Verzeiht gutwillig alle 
                            Schuld. 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            O Herr Christ, deck` zu unsre 
                            Sünd`. 
                        
                        
                            Und solche Lieb in uns 
                            entzünd`, 
                        
                        
                            Daß wir mit Lust dem 
                            Nächsten tun, 
                        
                        
                            Wie du uns tust, o Gottes 
                            Sohn!“
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            An diesen Gesang knüpfte 
                            der Herbergsvater eine kurze Predigt. Wir sollte 
                            nie glauben, daß eine Sünde sich nicht 
                            räche. (Ostwald 
                            1900)  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Lieder:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Literatur:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Hans Ostwald, Landstreicher. 
                            Die Kultur, Sammlung illustrierter 
                            Einzeldarstellungen Bd. 8, hrsg v. Cornelius 
                            Gurlitt, Berlin o. J. [ca. 1907]  
                        
                        
                            Hans Ostwald, Erotische 
                            Volkslieder aus Deutschland, Berlin 1910  
                        
                        
                            Rentsch, Arnulph: Die Kunden- 
                            oder Handwerksburschensprache. Die gesammelten 
                            Ausdrücke (...)  Praktischer Rathgeber 
                            (...) nebst Handwerker-Liederbuch, Chemnitz o.J. 
                            [ca. 1890]