Kisselhoff: DAS JUEDISCHE VOLKSLIED (2)
Erschienen in: DIE JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze über zeitgenössische Fragen des jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22 S.
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Ueber die Tonleider, auf der sich die älteste jüdische Musik aufbaut, lassen sich verschiedene Meinungen vernehmen. Naumann nimmt an, dass die jüdische Musik sich von der vierstufigen Tonleiter, die der alt-ägyptischen Musik eigen ist, bis zur fünfstufigen Tonleiter, die der alt-ägyptischen Musik eigen ist, bis zur fünf- und endlich gar bis zur siebenstufigen entwickelt hat, die der modernen Musik zu Grunde liegt; letzteres beweist die siebensaitige Lyra, die bei den Juden in Gebrauch war. In den Melodien, die sich auf der vier- und fünfstufigen Tonleiter aufbauen, werden Laute, welche Halbtöne geben, ausgelassen. Solche Melodien finden sich auch noch zurzeit bei den Wilden vor, bei Indianern, in schottischen, irischen und alt-russischen Liedern, sowie bei den Chinesen Bei den letzteren basiert auch die moderne Musik auf der fünf- bis sechsstufigen Tonleiter. Die euro-
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päischen Musik ist ihnen völlig unzugänglich und erscheint für das Ohr des Chinesen überaus unschön und misslautend.

Die fünfstufige Tonleiter hat sich auch bei den Juden in vielen Melodien erhalten. Deutlich ist sie in den Rezitativmelodien zu unterscheiden, in denen die „Gemoro“, „Tehilim“ (Psalmen), „Kidusch“ und „Hawdolo“, Haftoro“ gelesen werden. Dies beweist überzeugend das hohe Alter der jüdischen Musik überhaupt, sowie dieser Melodie im besonderen. Leider wurden diese Melodien von den Gelehrten und Musikern von Fach nicht gebührend beachtet. Und doch könnten sie den Schlüssel zur Lösung vieler bislang ungelöster Fragen in der Geschichte der Musik liefern. Zweifellos war den alten Juden auch die Begleitung benannt, mindestens die rhythmische (Pauken und Cymbeln), sowie arpeggierte Akkorde. Auch dazu liefert das Vorhandensein der siebensaitigen Lyra bei den Juden den Beweis.


IV. Synagogale Lieder und „Tropen“.
Die meisten Merkmale des altjüdischen Liedes hat der geistlich-religiöse Gesang aufzuweisen. Von den synagogalen Melodien mit ihrer rührenden Einfachheit und charakteristischen Originalität weht ein Hauch greisen Alters. Einige davon, wie „Kol nidre“, „Olenu“, „Wehakohanim“, „Kadisch“ und viele andere versetzen den Zuhörer in Staunen durch die Tiefe ihrer Mystik und ihre Formenschönheit. Die Wucht der Melodie und der ausdrucksvolle Vortrag aber bringen in religiös-ekstatischen Zustand. Die Meinung, dass in den synagogalen Gesängen Abklänge einer altersgrauen Vergangenheit erhalten sind. Vertritt Fetis, der bekannte Gelehrte und Autor des klassischen Werkes „Allgemeine Musikgeschichte“. Er behauptet, dass „in dem traditionellen Synagogalgesange und in den Rezitativen Spuren alt-hebräsichen Gesanges geblieben sind“. (Fetis, Histoire générale de la musique, I, p. 468, 474-475.) Synagogalgesänge sind von einer Reihe Kantoren und Komponisten gesammelt und, zum Teil selbständig, bearbeitet worden. Ich nennen hier Sulzer, Waintraub, Levandowsky, Nomberg, Rosowsky, Nowakowsky u. a. m. Mit Bedauern muss ich die traurige Tatsache verzeichnen, dass diese
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Namen sehr vielen jüdischen Musikern und Personen, die sich für Musik interessieren, völlig unbekannt sind. Und doch sind manche von ihnen, so Waintraub, von grossem Interesse für Musiker. Im übrigen wird der synagogale Gottesdienst allmählich verunreinigt, ist auch schon tatsächlich mit platten Melodien, mit Operetten- und Tanzweisen vermengt. Diese Frage müsste nicht nur dem Musiker, sondern auch jedem, der in irgend einer Weise am jüdischen Gemeindeleben teilnimmt, naheliegen. Die hohe Bedeutung der jüdischen synagogalgeistlichen Musik wurde auch vom besten russischen Kunstkenner, Herrn Stassow, voll gewürdigt, der seine Ueberzeugung aussprach, dass die synagogale Muaik einen bedeutenden Einfluss auf die kirchliche ausgeübt habe.

Bevor wir zur Charakteristik der weltlichen Volksmusik übergehen, wollen wir noch auf das ausserordentlich grosse Interesse hinweisen, die in dem Musiker die „Tropen“ – „taame haginoth“ hervorrufen können. Diese sind seit dem 4. Jahrhundert bekannt und haben bis in die Gegenwart hinein ihre originellen Notenzeichen und Benennungen – „paschta, munach, sarco, poseir“ usw. – sowie ihre eigenartigen Weisen beibehalten, die überall, wenn man von unbedeutenden Varianten absieht, gleich vorgetragen werden. Eine Weisen dieser Tropen sind voll Trauer und Tränen, voller Schmerz, der an Verzweiflung grenzt, „Echa iaschwa badad“; andere erzählen von der wunderbaren Errettung vor der Vernichtung seitens der Perser auf Anstiften des bösen Haman, in den Tagen des Achaschwerosch „Wajhi bi’me Ahaschwerosch“. Wieder andere erzählen in epischem Ton, mit geheimnisvollen Worten über die grosse Versuchung Abrahams durch Gott. Ehrfurchtgebietendes Alter liegt im Inhalt und im Tone der Mär über das, was gewesen: „Achar hadworim hoeile.“


V. Der Charakter des jüdischen Volksliedes im allgemeinen.
Das jüdische Volkslied, das geistliche wie das weltliche, wird unisono gesungen, gleich dem arabischen. Im Chorgesang lässt sich manchmal eine andere Stimme hören, die der ersten in Terz oder Sexte folgt, doch klingt das Lied zum
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Schluss immer unisono aus. Manchmal kann man Melodien hören, die von einem Unterton, wie von einer Begleitung, gefolgt werden, wie etwa „pom-pom“, „vi-vi“ u. dergl. m. Polyphonische elemente sind äusserst selten zu finden, so dass man das jüdische Volkslied im allgemeinen als homophonisch bezeichnen muss. Eine andere Eigenart des jüdischen Liedes, die ebenfalls im arabischen Liede vorkommt, ist die „sonderbare“ Note Fa-dièse om der absteigendem Tonleiter. Auf diese Eigenart weist auch Professor Naumann hin. Mit diesem Umstande begründet er seine Behauptung, dass „die semitischen Völker auch in musikalischer Hinsicht gemeinsame Merkmale besitzen“, (Naumann, Illustrierte Musikgeschichte, I, S. 96.)


VI. Das moderne weltliche Lied. Seine allgemeine Stimmung, Formen, Charakter, ethnographische Bedeutung.
Im modernen weltlichen Volkslied spiegelt sich mit erschöpfender Vollständigkeit das ganze Leben des jüdischen Volkes ab. Die ganze Trauer seiner Seele spricht aus den düsteren Klagetönen des Liedes. Es stöhnt und klagt das Lied, man hört darin deutlich die unterdrückten, unvergossenen Tränen unverdienter, andauernder Beleidigungen, harter Leiden und Prüfungen, die dieses eigentlichste Märtyrervolk Jahrhunderte land zu dulden hatte. Bedenkt man noch, dass das moderne Volkslied in der schwülen, engen Werkstatt entsteht, die ebenso an Luft- und Lichtmangel leidet wie das Lied selbst; dass die jüdischen Weisen von der allerärmsten jüdischen Volksschicht gesungen werden, die nicht nur unter rechtlichem, sondern auch unter ökonomischem Drucke verschmachtet – dann lernt man verstehen, woher diese ergreifenden, herzzerreissenden Laute, woher dieser Jammer eines blutenden Herzens. Das jüdische Volk kennt zurzeit keine lustigen Lieder in dur. Alle seinen Lieder sind im tiefsten Moll gehalten. Voll unausdenkbarer Trauer sind nicht nur seine Wiegenlieder, sondern auch die Hochzeits-, ja sogar seine humoristischen Lieder.

Das jüdische Volkslied ist das Lied des Ghettos. Suchen sie darin nicht die freie Weite der Wiesen, Blumenduft oder
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das zarte Gemurmel des zwischen seinen grünen Ufern dahinrieselnden Baches. Das jüdische Lied ist ein Stadtlied, das Lied der engen Gassen und der engen Stuben. Steinerne Mauern erdrücken es, schliessen es in sich selber ein. Und selbst das humoristische Lied ist ein bitteres Lächeln, trauriger als Tränen, eine ironische Betrachtung seiner selbst, seiner Leiden und Schicksalsschläge; es ist ein Lächeln der Lippen, während die Augen weinen. Wenn, nach der Definition Herbert Spencers, das Lied ein idealisierter Schrei ist, so ist das jüdische Lied der Schrei einer leidensmüden, gequälten, gepeinigten Seele..

So ist sein allgemeiner Ton. Im Inhalt des Liedes, in seinen Worten spiegelt sich die ganze Lebensweise des jüdischen Volkes ab, seine Bräuche und traditionelle Empfindungen, seine gegenwärtige Lage und seine4 historischen Erinnerungen. Die historischen Lieder können auch in gewissem Grade als Mass des jüdischen Liedes gelten. Auch ist es allgemein bekannt, dass „das Lied gleichzeitig mit der Sprache geboren wird,“ sodass kein Zweifel vorliegt, dass die Anfänge des jüdischen Volksliedes in der Zeit der Entstehung und Ausbreitung des Jargons zwischen den Juden zu suchen sind. Fast alle Seiten des Volkslebens widerspiegelnd, hat das jüdische Volkslied auch grosse ethnographische Bedeutung, muss daher auch für den jüdischen Sittenschilderer und Historiker von grossem Interesse sein.

Zwischen den vorwiegend selbständigen, originellen Melodien sind auch nachgeahmte zu finden: in einigen lassen sich Elemente des russischen häufiger des kleinrussischen Liedes unterscheiden, in den Liedern des Chassiden manchmal rumänische Weisen (die sogenannten Woloche). Doch bekommen im Volksmunde auch nachgeahmte Züge einen eigenartigen Charakter, sie ändern ihren Bau und werden von dem allgemeinen orientalischen Charakter der Melodie verwischt, um in den bezeichnenden Endpartien ganz zu verschwinden. Das echte Volkslied, immer naiv und kunstlos, muss von den imitierten Volksliedern, von den Liedern der „Badchonim“ (1) unterschieden werden. Diese Imitationen

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1) Spassmacher.

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