Kisselhoff: DAS JUEDISCHE 
                            VOLKSLIED (6)  
                        
                        
                            Erschienen in: DIE 
                            JÜDISCHE GEMEINSCHAFT. Reden und Aufsätze 
                            über zeitgenössische Fragen des 
                            jüdischen Volkes, herausgegeben von Dr. Ahron 
                            Eliasberg, Berlin. Jüdischer Verlag, 1913, 22 
                            S. 
                        
                        
                            ____________________________________________________________________________________________________ 
                            
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            7. Humoristische und 
                            Sittenlieder 
 
                        
                        
                            behandeln verschiedne Zeiten 
                            des jüdischen Volkslebens. Der Humor, der die 
                            Lieder dieser Art durchdringt, ist eigener Natur: 
                            es ist nicht mal ein Lachen unter Tränen, es 
                            ist ein  
                        
                        
                            S. 18 
                        
                        
                            elendes Lächeln, 
                            reichlich mit Tränen begossen, ein 
                            eigenartiger Galgenhumor, eine Verspottung der 
                            eigenen Armut, des schrecklichen Elends, der 
                            eigenen Leiden und des eigenen Unwissens. So singt 
                            der jüdische Fuhrmann im Liede: „Wolt 
                            ich gewen a row“:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            „Wolt ich gewen a row 
                            [1]  
                        
                        
                            ken ich nit kein teiro [2] 
                        
                        
                            wolt ich gewen a seicher [3] 
                             
 
                        
                        
                            hob ich nit kein scheiro. [4] 
                             
 
                        
                        
                            Un kein hober [5] hob ich nit, 
                             
                        
                        
                            un die weib schilt sich,  
                        
                        
                            un a Trunk branfen [6] wilt 
                            sich [7]  
                        
                        
                            seh ich mir a Stein,  
                        
                        
                            siz ich mir un wein … 
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            1. Würde ich auch ein 
                            Rabbiner sein, 2. Thora, 3. Kaufmann, 4. Ware, 5. 
                            Hafer, 6. Branntwein, 7. es gelüstet nach 
                            …
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            In einem anderen Liede „Hop-tik-tiak“ wird gesungen:  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Peisach zum Seider is seier 
                            [8] freilech  
                        
                        
                            Die weib is mir a malke [9],  
                        
                        
                            Un ich bin a meilech [10].  
                        
                        
                            Denken mir sech zu mitem bulbe 
                            [11] sak  
                        
                        
                            Un mir tanzen 
                            „Hop-tik-tiak“ … 
 
                        
                        
                            Kinder is ba mir a fule gezelt 
                            [12],  
                        
                        
                            Heile pupkes [13] ausgestellt, 
                             
                        
                        
                            Essen woltun [14] sei ganz 
                            geschmak [15]  
                        
                        
                            Tanzen sei lebedig [16] 
                            „Hop-tik-tiak“.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
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                            8. sehr, 9. Königin, 10. 
                            König, 11. Kartoffel, 12. eine Menge 
                            gezählt, 13. nackte Nabel, 14. möchten, 
                            15. stark, 16. lebhaft.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Ohne auf die 
                            Vollständigkeit unserer Erörterung 
                            Anspruch zu erheben, müssen wir, durch die 
                            Zeit gedrängt, zu den Liedern ohne Wort, den 
                            chassidischen und den Klesmerliedern 
                            übergehen.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            IX. Chassidische Lieder.  
                        
                        
                            Die chassidischen Lieder sind 
                            die originellsten nach Form und Charakter unter 
                            allen jüdischen Volksliedern, zugleich aber 
                            auch die reichsten in bezug auf die Form und 
                            Mannigfaltigkeit der musikalischen Farben. Die 
                            chassidischen Lieder sind ohne Worte und gelten bei 
                            dem Volke für die „höchsten“ 
                            Lieder.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            S. 19 
                        
                        
                            Der Charakter dieser Lieder, 
                            die einer Gebetsstimmung, oft einer religiösen 
                            Begeisterung entspringen, ist meistenteils 
                            mystisch. Das chassidische Lied, diese höchste 
                            Melodie ohne Worte, ist eine Unterredung mit Gott. 
                            Fragen und Antworten, Flehen und Hoffen, 
                            Tränen und tiefer Glauben an Gott sind darin 
                            enthalten. Für den Chassid ist Gott 
                            gleichzeitig nah und fern: Er ist überall und 
                            das Lied setzt seine Teilerscheinung im Menschen 
                            mit dem Großen Gott in Verbindung. Der 
                            Chassid singt sein Lied mitten im Gebete oder vor 
                            ihm, um sich in Gebetsstimmung zu versetzen und 
                            durchlebt während des Gesanges dieses 
                            Liedgebet so tief, dass er in Ekstase 
                            verfällt. Die tiefe Empfindung, die Stimmungs- 
                            und Gefühlsfülle erfordert eine 
                            Verkörperlichung der Laute, ihre 
                            Vervollständigung durch ein Hin- und Herwiegen 
                            des Körpers und durch verstärkte 
                            Gestikulation. Das Wichtigste beim Vortrag des 
                            Liedes ist die Aufrichtigkeit der Gefühle. Um 
                            unsere Anschauung ber das chassidische Lied zu 
                            illustrieren, bringen wir hier die Legende 
                            über den Pfeifer, die, wenn wir nicht irren, 
                            in der Literatur von Schalom Asch verarbeitet 
                            wurde.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Fun a Dorf is gekumen zu foren 
                            in Schtot af iom Kipur a ieschuwnik [1] - a tate 
                            mit a sun. Der tate is gewen a greiser am-hoorez, 
                            [2] und der sun hot eich gor nischt nit gekent, 
                            afile [3] Dawnen [4]. Seinen sei gekommen in Schul, 
                            hot der sun dersehen, as der eilom [5] schreit und 
                            weint un schokeltsech [6], sogt er zum Taten: Tate 
                            ich muss epes eich ton [7]: ich kan nit asei 
                            schtein un kukn [8]. Weist du wos, sogt er, ich wel 
                            pruwun [9] faifn. Sogt em der Tate: 
                            „Meschugener! weist [10] in schul feifn? 
                            … Bekizer [11], der ingul [12] hot sech wie 
                            meglich eingehalten … Nor as es is gekumen zu 
                            „nile“ [13], un der eilom hot sich gor 
                            zergaingen in Tefilo [14], hot sich der Bocher [15] 
                            unserer nit gekennt ainhalten un hot gegeben a faif 
                            … Hot der rebe, seicher zadik liwrocho [16], 
                            gesogt, as der faif hot zerspalten die sieben 
                            himlen un dergangen bis kisei hakoweid“ [17] 
                            …
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
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                            1. Dorfjude, 2, grosser 
                            Ignorant, 3. sogar, 4. beten, 5. die Gemeinde, 6. 
                            sich wiegen, 7. auch tun, 8. zuschauen, 9. 
                            versuchen, 10. „wie heisst?“, 11. Kurz, 
                            12. Jüngling, 13. Neilah, Schlussgebet am 
                            Versöhnungstage, 14. Gebet, 15. Knabe, 16. Das 
                            Andenken des Gerechten sei gesegnet, 17. 
                            Gottesthron.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            S. 20 
                        
                        
                            Die chassidischen Lieder 
                            werden zum Teil einzelnen Persönlichkeiten 
                            zugeschrieben und heißen deshalb „Dem 
                            rebens nigun“, „Reb Schmels 
                            Nigun“, „Der nigun fun Mordchai 
                            Kamerer“; oder sie werden nach dem Ort ihrer 
                            Herkunft benannt: „Der Lubaritzer 
                            nigun“, „der Kopiser“, der 
                            Zadier“ usw. Noch andere heißen: 
                            „Wolochi“, „Chabadnizy“, 
                            „a stile dume“ [Lied], „freileche 
                            redlech“ [Reigen]. Die letzeren werden nicht 
                            nur gesungen, sondern auch auf Hochzeitsfeiern 
                            gespielt.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            X. Das Hochzeitslied
 
                        
                        
                            Hochzeitslieder sind 
                            Erzeugnisse der jüdischen Volksmusikanten, der 
                            „Klesmer“. Da sie aber traditionell 
                            geworden sind, und weil überall und auf allen 
                            Hochzeiten dieselben Lieder gespielt werden, 
                            können sie für Volkslieder gelten. Ihr 
                            allgemeiner Ton ist wiederum tief traurig, voller 
                            Kummer sind die Lieder nicht nur „far [vor] 
                            der chupe“ [Trauhimmel (übertragen: 
                            Trauung)]], sondern auch „fun [nach] der 
                            chupe“. Glückwünsche werden 
                            dargebracht, Rufe „Masol teiw, masol 
                            teiw“ erschallen in allen Ecken und die 
                            Geigen führen ihre traurige Melodie fort. Der 
                            ganze Unterschied ist höchstens im Tempo. Und 
                            wieder dieselbe Sehnsucht, dieselbe Klage über 
                            das verlorene Glück, wieder Stöhnen, 
                            wieder langsam gedehnte Weisen. Ein Stück 
                            führt auch den Namen: „A redel, wie me singt sie: schtiler - 
                            weint sech, gecker - wilt sech tanzen!“ [1] Außer den 
                            überlieferten Weisen „Zu die erste 
                            Tenz“, in der Art einer Polonaise, werden 
                            noch „ba [bei] der chupewetschere“ 
                            [Mahl] sogenannte „Konzerte“ oder 
                            „Redlech“ und chassidische Lieder 
                            gespielt.  
                        
                        
                            
 
                        
                        
                            Erklärung: 
 
                        
                        
                            1. Wenn man einen Reigen 
                            singt, weint man inniger, und tanzt man rascher]